Religiöses Trauma – Wege der Genesung

Nicht jedes ehemalige Mitglied einer destruktiven religiösen Gemeinschaft erlebt diese Art von Trauma.  Viel häufiger kommt es zu einer anders gelagerten Überlastung des psychischen Systems. Durch Isolierung, Gaslighting, überhöhte Anforderungen und permanente Grenzüberschreitungen entsteht ein Kreislauf aus Angst und Scham, der anhaltenden emotionalen Stress hervorruft. Von der Gruppe wird dieses Erleben normalisiert, und daher empfindet der einzelne es nicht als besonders schlimm. Es ist aber häufig die Ursache von diversen Symptomen, die die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Ängste, Selbstwert- und Beziehungsprobleme, ein nagendes Gefühl von innerer Leere sowie das Fehlen von Leichtigkeit sind nur einige Symptome, die eher auf diese Art der Traumatisierung hindeuten können. Da viele Therapien das System Religion nicht mit in die Betrachtung einbeziehen, werden diese Traumatisierungen oft nicht erkannt.

Man kann nur behandeln, was man kennt

Wer in einer kontrollierenden religiösen Gemeinschaft gelebt hat, ähnelt einer geflüchteten Person. Er hat in einer fremden Kultur gelebt – mit einer Welt- und Selbstsicht sowie Werten, die es nur hier gab. Diese Kultur hat eine Atmosphäre erzeugt, die sich auf viele – oder alle – Mitglieder schädigend auswirkte. Das muss deine Therapeutin erstmal wissen. Und dafür braucht sie dich. Du kannst den Erfolg deiner Therapie verbessern, indem du Worte für deine traumatischen Erfahrungen findest und deiner Therapeutin so Informationen für eine optimale Zusammenarbeit zur Verfügung stellst. Falls so eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe nicht möglich ist, kannst du auch über einen Therapeuten-Wechsel nachdenken.

In destruktiven religiösen Gemeinschaften geht es um Kontrolle.

In einer kontrollierenden Gemeinschaft sollen die Mitglieder eine Persönlichkeit entwickeln, die mit den Ideen der Leitung übereinstimmt. Manche Gruppen nennen das sogar explizit „die neue Persönlichkeit anziehen“. Experten für destruktive Einflussnahme nennen so etwas die Entwicklung einer Pseudo-Identität. Diese gruppenkonforme Identität überlagert die authentische Identität des einzelnen und besteht aus sehr vielen Lagen – sogenannten Introjekten. Das sind erzwungene Überzeugungen und Werte, die gar nicht zu dir gehören und dein psychisches System noch lange nach deinem Weggang belasten können.

Kein Sprint, sondern eher ein Marathon.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie früh bei Hineingeborenen schon mit der Überlagerung der eigenen Identität begonnen wurde, wird klar, dass diese vielen Lagen nicht einfach und nicht schnell abzutragen sind. Das erfordert eine Menge Zeit, Energie und Geduld. Daher betrachte ich den Genesungsprozess nach religiösem Trauma als einen (lebens-)langen Prozess oder eine Art Reise. Eine Reise, die uns immer besser in Kontakt mit unserer authentischen Identität bringt. Es lohnt sich, in aller Ruhe einen Mini-Schritt nach dem anderen zu machen und dabei gut für sich zu sorgen. Weniger ist hier mehr.

Ist eine Therapie etwas für dich?

  • Eine (Trauma)-Therapie kann helfen, das überlastete psychische System besser zu regulieren und ein Gefühl von Sicherheit im Hier und Jetzt herzustellen.
  • In einer guten therapeutischen Beziehung kann der Klient sich- vielleicht zum ersten Mal – wirklich gesehen und gehört fühlen.
  • Die zwei verheerendsten Regeln, die Kinder von ihren gläubig-rigiden Eltern gelernt haben, werden so allmählich aufgelöst: Du sollst nicht denken – Du sollst nicht fühlen. Indem wir diese zwei Werkzeuge, mit denen wir uns gut durchs Leben navigieren können, zurückerobern, holen wir uns Stück für Stück das eigene Leben zurück – etwas, worauf wir seit jeher ein Recht haben.

Reisefundstücke

Hier findest du nur wenig Theorie. Stattdessen notiere ich, was ich auf meiner eigenen Reise (die ich übrigens gerne meine Heldenreise nenne) so erlebe. Und über was ich nachdenke, wenn ich andere auf ihrer Reise begleite. Oder über was ich beim Lesen gestolpert bin. Das sind ganz persönliche Reiseeindrücke und Gedankensplitter. Meine Einladung an dich ist, dir deine eigenen Gedanken dazu zu machen – und nachzuspüren, wie dich das Gelesene berührt. Dabei gibt es kein richtig oder falsch. Deine Gedanken und Gefühle sind einfach nur Antworten deines Inneren. Und diese Antworten sind wertvoll.

Apropos wertvoll – wertvolle Gedanken sind es wert, sie aufzuschreiben. Vielleicht in ein besonders schönes Buch. So entsteht im Laufe der Zeit dein eigenes Reise-Journal. Und immer wenn du in Zukunft einmal darin blätterst, merkst du, wie weit deine Reise dich schon gebracht hat.

Ich fange jetzt einfach mal am Beginn – oder Tiefpunkt – meiner Reise an. Bei der Verzweiflung, die ich vor fast zwanzig Jahren empfunden habe. Damals habe ich ein Gedicht verfasst. Wenn ich es heute lese, kann ich immer noch immer spüren, wie hilflos ich mich damals gefühlt habe.

Ratlos

Ich blicke auf das kuschelige, enge Nest.

Was ich sehe, ist verboten.

Ist es denn wahr?

Kann mit keinem sprechen,

meinem Gefühl nicht trauen.

Aber wem soll ich sonst trauen?

Mag nicht mehr reden.

Mag nichts mehr hören.

Mag nichts mehr sehen.

Mag nichts mehr fühlen.

Brauche Ruhe.

Ich friere.

Brauche Wärme - Nestwärme.

Kriege ich aber nicht,

wenn ich frei sein will.

Punkt. Ende.

Heute ist das Vergangenheit. Ich kann mich noch gut zurückerinnern, aber es ist vorbei. Ich bin an einem ganz anderen Punkt im Leben.

Wo stehst du gerade?

Um die Metapher einer Bergwanderung zu nutzen, war ich damals in einer extrem dunklen, bedrückenden Schlucht und fand einfach keinen Weg raus. Heute bin ich eher auf der Süd-Seite des Berges angekommen und genieße die Weite und das Panorama beim Wandern. Natürlich gibt es auch Ärgernisse und Herausforderungen – wie auf jeder Wanderung. Nicht immer scheint die Sonne. Es gibt auch Regen, Wind und Schnee. Aber ich bin gut genug ausgerüstet, um damit umzugehen und meine Reise die meiste Zeit zu genießen.

Meine Klienten bitte ich oft, den schlimmsten Punkt ihrer Reise und ihren heutigen Standort als Punkt in eine Tal-und-Berg-Skizze einzuzeichnen. Ein Kunstwerk soll das nicht werden. Deswegen nutzen wir auch ganz dicke Stifte dazu.

Mein Bild sieht so aus:

Wie würdest du deine Situation darstellen? Welchen Unterschied bemerkst du, wenn du deine Situation heute mit dem Beginn deiner Reise vergleichst? Vielleicht hast du allen Grund, deine bisherige Reise zu feiern. Und vielleicht gibt es auch Pläne für deine nächsten Mini-Schritte.

Ich wünsche dir weiterhin eine gute Reise – und freue mich auf unser nächstes Treffen.